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April 15, 2025

Neurologische und kognitive Auswirkungen von KI-Chatbots

Veröffentlicht von Tobias Goecke (Göcke) , SupraTix GmbH (6 Tage, 18 Stunden her aktualisiert)

KI-gestützte Chatbots wie OpenAIs GPT-Modelle haben in kurzer Zeit Einzug in Bildung, Kreativwirtschaft und Alltag gehalten. Ihr Einfluss auf menschliches Lernen und Denken wird intensiv diskutiert – einerseits als Chance zur Unterstützung kognitiver Prozesse, andererseits mit der Sorge vor “kognitiver Verarmung” durch Abhängigkeit von der KI. Diese Literaturrecherche fasst den aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu den neurologischen (z. B. Veränderungen im Gehirn, Verhalten) und kognitiven (z. B. Aufmerksamkeit, Problemlösung, kritisches Denken) Effekten von KI-Chatbots zusammen. Dabei werden drei Anwendungsfelder betrachtet: (1) Bildung, (2) Kreativität sowie (3) Technikfolgenabschätzung im Sinne langfristiger gesellschaftlicher und psychologischer Auswirkungen.

1. Bildung: KI-Chatbots im Lernprozess

Cognitive Entlastung und Lernerfolg: Erste Studien zeigen gemischte Effekte von ChatGPT im Bildungskontext. Positiv zu vermerken ist, dass ChatGPT als Werkzeug die kognitive Last bei Recherche- und Schreibaufgaben reduzieren kann​. In einem Experiment mit deutschen Studierenden führte die Nutzung von ChatGPT bei der Informationssuche zu geringerem empfundenen mentalen Aufwand als die Verwendung von Google – die Aufgaben wurden als einfacher erlebt​. Zudem ergab eine Meta-Analyse von 17 Studien, dass ChatGPT-basiertes Lernen die studentische Beteiligung mäßig verbessert, insbesondere die kognitive Beteiligung am Lernprozess (Effektstärke Hedges’ g ≈ 0.59)​. Studierende fühlen sich oft motivierter, was sich auch in mittelgradig höherer Verhaltens- und emotionaler Beteiligung zeigt, vor allem bei Lernenden, die mit herkömmlichem Unterricht Schwierigkeiten hatten​. Diese oberflächlichen Verbesserungen deuten darauf hin, dass KI-Tools Engagement und effiziente Aufgabenerledigung fördern können. Kritisches Denken und Tiefenverarbeitung: Gleichzeitig warnen Forscher vor einer Beeinträchtigung höherer kognitiver Fähigkeiten durch ungesteuerten KI-Einsatz. In der genannten Meta-Analyse blieben Effekte auf kritisches Denken und tiefes Verstehen inkonsistent – in einigen Teilstudien verschlechterte sich die Qualität studentischer Argumentationen und Schlussfolgerungen bei ChatGPT-Nutzung ohne didaktische Anleitung​. Eine aktuelle Untersuchung zeigte ein deutliches Trade-off: ChatGPT erleichterte zwar die Recherche, führte aber zu oberflächlicheren Ergebnissen – die von ChatGPT unterstützten Studierenden verfassten weniger durchdachte Argumente als jene, die klassisch mit Suchmaschinen arbeiteten​. Ihre Schlussfolgerungen waren tendenziell vereinheitlichter und weniger kritisch hinterfragt, da ChatGPT vorstrukturierte Antworten liefert​. Dies stimmt mit der Befürchtung überein, dass übermäßige Abhängigkeit von KI das Hinterfragen und analytische Denken schwächt. Nutzer neigen dazu, schnelle KI-Antworten unreflektiert zu akzeptieren, anstatt sich durch eigenständiges Suchen und Bewerten vertieft mit dem Stoff auseinanderzusetzen​. Langfristig könnten so Problemlösungsfähigkeit und Urteilsvermögen leiden, wenn Lernende sich zu sehr auf generative KI verlassen, ohne kritisches Prüfen zu üben. Gedächtnis und Wissenserwerb: Ein verwandter Effekt ist das sogenannte “Google-Effekt”-Phänomen, das auch bei Chatbots relevant sein dürfte. Bereits 2011 wiesen Sparrow et al. nach, dass Menschen weniger Fakten auswendig lernen, wenn sie wissen, dass Informationen jederzeit extern abrufbar sind – stattdessen merken sie sich eher, wo die Information zu finden ist​. ChatGPT fungiert ähnlich als externe Gedächtnisstütze (transaktives Gedächtnis): Benutzer könnten Fakten weniger tief abspeichern, da sie davon ausgehen, jederzeit die KI befragen zu können. Zwar fehlen noch konkrete Langzeitstudien hierzu, doch es ist plausibel, dass ständige Verfügbarkeit von KI-Antworten die aktive Wissensaneignung und Erinnerungsleistung schwächt. Didaktisch kann dem entgegengewirkt werden, indem ChatGPT als Ergänzung zum eigenen Denken genutzt wird – etwa um Verständnis zu prüfen oder Denkanstöße zu geben – statt als Ersatz für aktives Lernen. Experten empfehlen, ChatGPT nur als Hilfsmittel in strukturierte Lernprozesse einzubinden, die weiterhin eigenständige Denk- und Erinnerungsübungen erfordern​. So soll gewährleistet werden, dass Grundlagen wie Memorieren, Verstehen und kritisches Reflektieren weiterhin trainiert werden. Neurologische Entwicklungsaspekte: Aus neurowissenschaftlicher Perspektive wird betont, dass das Gehirn wie ein Muskel trainiert werden muss​. Insbesondere bei Kindern und Jugendlichen in der Bildungsphase ist hohe Neuroplastizität gegeben – grundlegende neuronale Netzwerke für Sprache, Exekutivfunktionen und Problemlösen formen sich durch aktives Üben und geistige Anstrengung​. Wenn zu früh und unkritisch KI-Tools Antworten liefern, besteht die Gefahr, dass bestimmte neuronale Verknüpfungen weniger ausgebildet werden. So warnen Pädagogen, eine dauerhafte “Rolltreppennutzung” von KI könne dazu führen, dass z. B. Aufmerksamkeitsspanne und Frustrationstoleranz beim Lösen schwieriger Aufgaben nicht ausreichend geschult werden. Zwar liegen hierzu noch keine bildgebenden Studien mit Chatbot-Nutzung vor, aber Analogie-Evidenzen aus anderen Bereichen untermauern diese Sorge: Etwa hat eine Studie gezeigt, dass regelmäßige GPS-Navigation anstelle eigener Orientierung zu messbaren Einbußen im räumlichen Gedächtnis führt – Vielnutzer hatten schlechtere Hippocampus-abhängige Navigationsergebnisse und über Jahre eine beschleunigte Abnahme dieser Fähigkeit​. Übertragen auf ChatGPT könnte das bedeuten, dass das Gehirn bestimmte Denkleistungen (z. B. vernetzte Erinnerung oder komplexes Problemlösen) reduziert, wenn die KI diese Funktionen routinemäßig abnimmt. Erste Erkenntnisse stützen diese Analogie: Eine von Microsoft beauftragte Studie mit über 300 Wissensarbeitern ergab, dass höherer KI-Einsatz mit geringerem eigenständigen kritischen Denkaufwand einhergeht – je stärker sich die Befragten auf generative KI verließen, desto seltener hinterfragten sie die erhaltenen Informationen kritisch​. Dies deutet auf eine Art “kognitive Faulheit” hin, bei der das Gehirn bei Verfügbarkeit der KI weniger aktiv in die Tiefe denkt. Zwischenfazit Bildung: KI-Chatbots bieten in der Bildung erhebliche Chancen zur Unterstützung von Lernenden – von der Reduktion kognitiver Überlastung bis zur personalisierten Hilfestellung. Tatsächlich lassen sich kurzfristig Effizienzgewinne und Motivationseffekte verzeichnen. Allerdings scheinen Tiefenlernen und Kompetenzaufbau unter ungeregelter KI-Nutzung zu leiden: Kritisches Denken, eigenständige Analyse, Problemlösen und langfristige Wissensspeicherung können beeinträchtigt werden, wenn die KI anstelle des Lernenden denkt. Neurologisch gesehen könnte mangelndes geistiges Training in sensiblen Entwicklungsphasen dazu führen, dass sich gewisse neuronale Verbindungen schwächer ausprägen – ähnlich einem Muskel, der mangels Training an Kraft verliert​. Die Literatur empfiehlt daher, ChatGPT wohlüberlegt als didaktisches Werkzeug einzusetzen: als Tutor oder zum Feedbackgeben, aber immer so, dass Lernende weiterhin zum selbständigen Denken angehalten werden​. So kann die KI als kognitives Prothesenwerkzeug dienen, ohne die natürliche geistige Entwicklung zu behindern.


2. Kreativität: KI als Förderer oder Bremse kreativen Denkens?

Unterstützung kreativer Prozesse: Im Bereich Kreativität zeigen aktuelle Studien, dass KI-Chatbots durchaus als Katalysator für Ideenfindung dienen können. In fünf Experimenten untersuchte ein Forscherteam die Kreativitätswirkung von ChatGPT auf Alltagsprobleme (z. B. originelle Geschenkideen, neue Verwendungsmöglichkeiten für Alltagsgegenstände) – mit bemerkenswertem Ergebnis: Teilnehmende, die ChatGPT einsetzten, generierten deutlich kreativere Lösungen als solche ohne KI-Unterstützung oder mit bloßer Google-Suche​. Unabhängige Gutachter bewerteten die von ChatGPT inspirierten Einfälle als origineller und hochwertiger​. Die Stärke des Modells liege darin, verschiedenartige Konzepte zu verknüpfen und damit neuartige, aber kohärente Ideen zu produzieren​​. Ein Beispiel: Für die Frage “Was kann man alles mit einem Basketball machen?” schlug GPT-4 vor, den Ball aufzuschneiden und als Blumentopf zu nutzen – eine Idee, auf die die meisten Menschen nicht kommen. Tatsächlich erzielte GPT-4 in einem Kreativitätstest (Torrance Test of Creative Thinking) Resultate, die 99 % der menschlichen Probanden übertrafen, und rangierte damit auf dem Niveau des kreativsten Prozents der Teilnehmer​. Solche Befunde legen nahe, dass moderne KI bei divergentem Denken (dem Generieren vielfältiger neuer Ideen) mindestens mithalten kann und Menschen helfen könnte, über konventionelle Denkmuster hinauszugehen. Praktisch berichten Autoren, dass ChatGPT z. B. Schreibenden aus der Schreibblockade helfen oder Designern rasch viele Konzeptvarianten liefern kann. Damit fungiert die KI als eine Art kreativer Sparringspartner, der gedankliche Anstöße gibt und die kreative Produktivität steigert, ohne menschliche Vorstellungskraft grundsätzlich zu ersetzen. Auswirkungen auf die menschliche Kreativität: Die zentrale Frage bleibt, ob die dauerhafte Nutzung solcher KI-Assistenz menschliche Kreativität eher fördert oder verkümmern lässt. Einige Experten warnten initial vor einer Verarmung kreativer Fähigkeiten, weil Nutzer vielleicht weniger selbst brainstormen, sobald die KI auf Knopfdruck Ideen liefert. Allerdings zeichnen empirische Studien bisher ein relativ entwarnendes Bild: Eine 10-wöchige Untersuchung mit Studierenden, die ChatGPT regelmäßig für kreative Aufgaben im Studium einsetzten, fand keine generelle Abnahme des kreativen Denkens​. Im Gegenteil zeigten standardisierte Kreativitätstests am Ende des Experiments, dass gut die Hälfte der Teilnehmer signifikant kreativer wurde, während ein Viertel leichte Einbußen hatte und der Rest unverändert blieb​. Statistisch ergab sich keine Evidenz für einen negativen Einfluss von ChatGPT auf die Kreativitätsleistung insgesamt​. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Ko-Kreativität mit KI – also das gemeinsame Lösen kreativer Aufgaben – durchaus synergistisch sein kann. Die KI bietet Vorschläge und erweitert den ideellen Suchraum, während der Mensch auswählt, bewertet und weiterdenkt. So können Nutzer durch die KI sogar neue Denkwege erlernen. Berichte aus der Forschungsliteratur betonen, dass Kreativität in Zukunft womöglich neu definiert wird: Nicht nur die Fähigkeit, aus dem Nichts zu schöpfen, sondern auch die Fähigkeit, KI-Werkzeuge geschickt einzusetzen, um kreative Resultate zu erzielen​​. In diesem Sinne verlagert sich die menschliche Kreativitätskompetenz hin zur kreativen Nutzung von KI – etwa die Kunst, die richtigen Eingaben (Prompts) zu finden und die KI-Ergebnisse inspirierend weiterzuentwickeln. Risiken und Grenzen: Trotz dieser optimistischen Tendenzen sind gewisse Vorbehalte angebracht. Zum einen ist zu beachten, dass die von KI generierten Ideen oftmals “inkrementell neu” statt radikal neu sind​. ChatGPT kombiniert Bestehendes aus seinem gigantischen Trainingskorpus; völlig bahnbrechende, konzeptuell revolutionäre Einfälle (die wirklich aus dem Nichts entstehen) sind eher selten. Menschen könnten sich also an relativ konventionelle KI-Vorschläge gewöhnen und weniger dazu angeregt werden, ausgefallenere Pfade zu beschreiten. Zum anderen zeigen qualitative Befragungen, dass Kreativschaffende ambivalent sind: Manche fühlen sich entlastet und inspiriert durch KI, andere klagen, die Texte aus ChatGPT seien stilistisch eintönig oder würden zur Nivellierung kreativer Ausdrucksweisen führen​. Es besteht die Gefahr, dass bei unreflektierter Nutzung alle Ergebnisse auf den gleichen “KI-Mainstream” hinauslaufen und individuelle kreative Stimmen verblassen. Zudem könnte eine psychologische Abhängigkeit entstehen: Wenn man sich daran gewöhnt, dass Ideen auf Anhieb von der KI kommen, sinkt vielleicht die Frustrationstoleranz für den eigenen kreativen Prozess. Erste Hinweise auf heterogene Effekte gab die oben erwähnte Studie: Ein Viertel der Studierenden verzeichnete tatsächlich einen Rückgang ihrer Kreativitätswerte​. Möglicherweise handelte es sich um jene, die sich passiv auf die KI verließen, statt die Anregungen aktiv weiterzuentwickeln. Hier zeigt sich, wie wichtig der Umgang mit dem Tool ist. Wird ChatGPT als Ko-Kreativer Assistent eingesetzt – der Mensch bleibt Direktor des kreativen Prozesses – können Fähigkeiten wachsen. Lässt man sich jedoch von der KI dominieren, besteht die Gefahr, zum “Sklaven der Technologie” zu werden (so die Wortwahl mancher Kritiker), was langfristig die eigene kreative Problemlösekompetenz schmälern könnte. Deshalb plädieren Autoren dafür, KI im kreativen Bereich transparent und dosiert einzusetzen: als Ideengenerator, der aber immer einer menschlichen Qualitätskontrolle und Variation unterliegt​​.


3. Technikfolgenabschätzung: Gesellschaftliche und psychologische Langzeitwirkungen

Erosion kognitiver Fähigkeiten durch Abhängigkeit: Auf der Makroebene stellen sich Fragen, wie die fortgesetzte Nutzung von KI-Chatbots unsere Gesellschaft intellektuell prägt. Zahlreiche Quellen ziehen Vergleiche zu früheren Technologieeinführungen: Schon das Aufkommen von Schrift, Buchdruck, Taschenrechnern oder Internet rief Befürchtungen hervor, Menschen könnten Fähigkeiten “verlernen”, wenn Technik diese übernimmt​. Im Falle von generativer KI scheinen sich einige dieser Befürchtungen zumindest teilweise zu bestätigen. Die Microsoft-Studie (2025) fand, dass Wissensarbeiter mit hohem Vertrauen in KI-Tools seltener eigenes kritisches Denken einsetzen​​. Konkret sank die Bereitschaft, KI-Antworten zu hinterfragen, proportional zur Zunahme des KI-Einsatzes​. Ähnliche Beobachtungen kommen aus der Software-Entwicklung: In Teams, die intensiv KI-basierte Codierhilfen nutzen, nimmt bei manchen Programmierern das tiefergehende Verständnis von Algorithmen und Konzepten ab​ – man verlässt sich auf vorgefertigte Lösungen, ohne die Grundlagen nachzuvollziehen. Diese schleichende Deskilling-Tendenz könnte langfristig zu einer Entwertung menschlicher Expertise führen. Wenn künftige Generationen Routineprobleme gar nicht mehr ohne KI lösen, droht ein Wissensverlust “wie verlernte Handwerkskunst”. Gleichzeitig verschiebt sich das Anforderungsprofil: Gefragt sind verstärkt Kompetenzen in Überwachung und Validierung von KI-Ausgaben statt klassisches Herleiten. So beschreiben es auch qualitative Ergebnisse: Durch KI-Nutzung verändert sich die Natur des kritischen Denkens – es geht mehr um das Überprüfen und Zusammenführen von KI-generierten Informationen als um das originäre Generieren dieser Inhalte​. Das erfordert zwar ebenfalls kognitive Anstrengung, aber anderer Art. Ein Risiko besteht darin, dass Benutzer diese Prüfaufgabe vernachlässigen, insbesondere wenn blindes Vertrauen in die Maschine vorherrscht. Dann können Fehler, Biases oder Halluzinationen der KI unentdeckt bleiben und ins kollektive Wissen einsickern. Aufmerksamkeit und kognitive Disposition: Die ständige Verfügbarkeit eines Chatbots als „Allzweck-Assistent“ könnte auch die Art und Weise verändern, wie wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren und Probleme angehen. Einige Autoren vermuten, dass Menschen in einer KI-durchdrungenen Umgebung vermehrt zu kognitiven Abkürzungen neigen – also möglichst schnell eine Lösung mit minimalem Aufwand suchen​. ChatGPT liefert oft in Sekundenbruchteilen Antworten, was die Geduld für langwierige eigenständige Analysen schmälern könnte. In der Psychologie ist bekannt, dass Bequemlichkeit ein starker Treiber ist: Warum lange nachdenken, wenn eine schnelle Lösung präsentiert wird? Die Gefahr besteht, dass wir uns daran gewöhnen, bei jeder Unklarheit sofort die KI zu befragen, anstatt selbst zu reflektieren. Dies könnte zu Aufmerksamkeitsdefiziten beitragen, da die Fähigkeit, sich ohne sofortige externe Hilfestellung in ein schwieriges Problem zu vertiefen, seltener gefordert wird. Bisher gibt es hierzu keine direkten Langzeitstudien mit GPT, doch Parallelen zu Phänomenen wie Smartphone-Abhängigkeit (ständiges Nachsehen von Informationen, verkürzte Konzentrationsspannen) bieten Anlass zur Wachsamkeit. In sum, könnte eine “KI-überstützte” Gesellschaft tendenziell eher breites Halbwissen mit hoher Verfügbarkeit an der Oberfläche entwickeln, während Tiefenwissen und lang anhaltende Konzentration zur knapperen Ressource werden – etwas überspitzt formuliert. Soziale Kognition und zwischenmenschliche Auswirkungen: Ein weiterer Aspekt ist, wie langfristiger Umgang mit menschenähnlichen Chatbots unser Sozialverhalten und psychologisches Wohlbefinden beeinflusst. Da moderne Sprachmodelle in gewissem Maße Empathie und Zwischen-den-Zeilen-Lesen simulieren können​, besteht die Möglichkeit, dass Nutzer emotionale Bindungen oder zumindest Gewohnheiten im Umgang mit der KI aufbauen. In Einzelfällen wurden KI-Chatbots bereits als virtuelle Gesprächspartner oder Therapeutenersatz genutzt. Die Folgen solcher Interaktionen sind noch wenig erforscht. Einerseits könnten introvertierte oder einsame Personen profitieren, wenn KI-Gespräche soziale Unterstützung bieten. Andererseits wirft es ethische und psychologische Fragen auf, wenn Menschen menschliche Interaktion durch Maschine ersetzen: Könnte dies Empathiefähigkeit oder die Fähigkeit, nonverbale Signale realer Gegenüber zu deuten, vermindern? Oder birgt es die Gefahr von Vermenschlichung der Maschine, was zu Verwirrung über Realität und Fiktion führt? Studien zur sozialen Kognition betonen, dass der Mensch normalerweise durch echten sozialen Kontakt (Mimik, Gestik, wechselseitige Emotion) wichtige neuronale Verschaltungen trainiert. Eine Welt, in der ein Teil dieser Stimulation von berechenbaren Algorithmen kommt, könnte die Qualität sozialer Erfahrungen verändern. Allerdings bewegen wir uns hier im Bereich der Hypothesen – belastbare Langzeitdaten fehlen. Technikfolgenabschätzung muss also diese weichen Faktoren mitdenken: Bildungssysteme und Gesellschaft sollten darauf achten, dass trotz KI-Nutzung genügend Raum für zwischenmenschliches Lernen und echtes Problemlösen bleibt, um soziale und emotionale Kompetenzen nicht verkümmern zu lassen. Langfristiges Gleichgewicht und Empfehlungen: Insgesamt zeichnen die Studien ein Bild, in dem KI-Chatbots sowohl Heilmittel als auch potentielles Gift für die kognitive Entwicklung sein können – je nach Dosis und Anwendung. Bei vernünftiger Nutzung können sie repetitive mentale Aufgaben abnehmen, Zugang zu Wissen demokratisieren und kreative sowie lernbezogene Prozesse bereichern. So könnten sie etwa Bildungsungleichheiten reduzieren, indem sie als jederzeit verfügbarer Tutor dienen. Auch für die Arbeitswelt sind Produktivitätsgewinne und neue Kollaborationsformen Mensch-Maschine in Aussicht gestellt. Gleichzeitig mahnt die Forschung, die Kosten langfristiger Abhängigkeit nicht zu ignorieren: Weniger Übung in zentralen Denkfähigkeiten, mögliche Veränderungen in Gehirnaktivität durch “Nichtgebrauch”, Verlust an menschlicher Einzigartigkeit in bestimmten schöpferischen Tätigkeiten und veränderte soziale Dynamiken. Technikfolgenabschätzung bedeutet hier, steuernd einzugreifen, bevor negative Effekte irreversibel werden. Dazu gehören Bildungsinitiativen, die Medienkompetenz und kritisches Denken gegenüber KI fördern, Richtlinien für den ethischen KI-Einsatz (etwa um Plagiarismus und Fehlinformationen entgegenzuwirken), sowie interdisziplinäre Forschung, die neurokognitive Langzeiteffekte weiter beobachtet.


Fazit

Die bisherige Literatur zeigt, dass KI-Chatbots vom Kaliber GPT zweischneidige Auswirkungen auf unsere Neurologie und Kognition haben. Einerseits wirken sie als kognitive Verstärker: Sie erleichtern Informationszugang, steigern kurzfristig Effizienz und können als kreative und lernförderliche Partner dienen. Andererseits besteht die Gefahr, dass bei unreflektiertem Einsatz grundlegende geistige Fähigkeiten und Gehirnareale unterfordert bleiben und sich zurückentwickeln – getreu dem Prinzip “use it or lose it”​. Nachgewiesene Effekte umfassen u. a. reduzierten eigenen Denkaufwand und kritische Bewertung bei starker KI-Nutzung​, tendenziell geringere tiefe Informationsverarbeitung sowie Änderungen im Gedächtnisverhalten (verstärkte Auslagerung von Wissen)​. Gleichzeitig gibt es Hinweise, dass kreative Fähigkeiten nicht zwangsläufig verkümmern, sondern mit KI-Unterstützung sogar wachsen können, sofern der Mensch aktiv im Prozess bleibt​​. Neurologisch sind direkte Studien rar; doch Erkenntnisse aus Analogiebereichen (z. B. Navigationshirn vs. GPS) und entwicklungspsychologisches Wissen legen nahe, dass ständige KI-Hilfestellung durchaus physische Spuren im Gehirn hinterlassen könnte – positiv wie negativ, je nach Nutzungsmuster. Insgesamt plädieren Experten dafür, ein Gleichgewicht zu suchen: Die Stärken der KI nutzen, ohne die eigenen geistigen Muskeln verkümmern zu lassen​. Praktisch bedeutet dies, KI-Chatbots gezielt als Werkzeug einzusetzen – zum Experimentieren, Ideengenerieren, Üben oder Entlasten – aber immer begleitet von menschlicher Aufsicht, kritischer Reflektion und Ergänzung durch traditionelle Lern- und Denkmethoden​​. Gesellschaftlich steht die Aufgabe an, Richtlinien und Bildungsstrategien zu entwickeln, die die kommende Generation auf ein Leben mit KI vorbereiten, ohne dass dabei Kreativität, kritisches Denken und soziale Intelligenz verloren gehen. Die Forschungslage 2025 zeigt erste Trends, betont aber auch, dass wir die langfristigen neurologischen Auswirkungen im Auge behalten müssen. Fortlaufende wissenschaftliche Begleitung, interdisziplinäre Technikfolgenabschätzung und eine bewusste, reflektierte Nutzungspraxis werden entscheidend sein, um das Potential von ChatGPT & Co. zu heben, ohne den Menschen geistig zu entmündigen.

 

Literaturverzeichnis

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Deutschlandfunk Nova (2023). Künstliche Kreativität – ChatGPT 4 zeigt sich kreativer als die meisten Menschen. Beitrag vom 10.07.2023. – Berichtet über eine Studie, in der GPT-4 einen Kreativitätstest (TTCT) besser als 99 % der menschlichen Teilnehmer absolvierte​, was die außergewöhnlichen kreativen Fähigkeiten der aktuellen KI verdeutlicht und mögliche Implikationen für menschliche Innovationsprozesse skizziert.

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